Katzen, Roboter und Gehirnuploads: In Stray auf Spuren künstlicher Intelligenz

Eine schlafende orangefarbene Katze, die auf Gras liegt. Auf ihrem Kopf sitzt ein gelber Schmetterling. Die Spieler*innen steuern diese Katze in Stray.
Ruhe vor dem Sturm zum Beginn von Stray.

Einleitung

Disclaimer

Stray ist ein im Jahr 2022 erschienenes Videospiel, welches von „BlueTwelve Studio“ entwickelt und von „Annapurna Interactive“ veröffentlicht wurde. In dem Spiel spielt man eine kleine Katze, die von ihrer Familie getrennt wurde und versucht zu dieser zurück zu finden. Stray hat in Deutschland eine Altersfreigabe ab 12 Jahren erhalten.
Dieser Essay enthält Spoiler zum Videospiel Stray.

Willkommen in Strays Postapokalypse

Im Grunde erkundet man in Stray eine postapokalyptische Cyberpunk-Welt. Grelle Neonreklameschilder und -lampen erhellen überall das Dunkel der unterirdischen Stadt, die von einer riesigen Kuppel von der Oberwelt abgeschirmt wird. Die Natur hat große Teile der Stadt zurückerobert. Trümmer und Abfall, wie leere Flaschen und achtlos weggeworfenes Verpackungsmaterial, türmen sich an allen Ecken und Enden. Die meisten Roboter, welche die Stadt bewohnen, erscheinen bewusstseinsfähig und autonom und gehen ihrem alltäglichen Leben nach.

Sie arbeiten in Bars, in Kleidungsläden, als Reinigungskräfte bei der städtischen Abfallfirma „Neco Corp“ oder als Sicherheitspersonal. In ihrer Freizeit gehen sie in Clubs, lesen, machen Musik, stricken oder schwelgen in Erinnerungen an eine Zeit, in der die Menschen, deren „Companions“ oder Bedienstete sie waren, noch das Stadtbild prägten.

Doch die Menschen sind alle längst verschwunden und innerhalb der Mauern der Stadt breiten sich mutierte Bakterien, zeckenähnliche „Zurks“, immer weiter aus, die mittlerweile auch an Metall Gefallen gefunden haben, weshalb sie selbst für die Roboter eine unmittelbare Gefahr darstellen.

Auf samtenen Pfoten durch die Welt von Stray

Inmitten dieser Welt findet man sich in Form einer kleinen orangenen Katze, die von den Spieler*innen gesteuert wird, wieder, nachdem bei einem Ausflug mit drei anderen Katzen ein altes Rohr wegbricht und man in die Tiefen der Bunkerstadt stürzt.

Das Ziel ist es einen Weg zurück an die Oberfläche zu finden. Es gilt Geheimnisse zu entdecken, verschiedene Rätsel und Puzzles zu lösen, Sofas und Teppiche zu zerkratzen, Gegenstände von Kanten zu stoßen, durch die zahllosen Häuserschluchten zu streunen oder sich auf einem weichen Kissen einzurollen und einen ausgiebigen Mittagsschlaf zu halten. Kurzum, in der Rolle als Katze voll und ganz aufzugehen.

Im Laufe des Abenteuers erfährt man mehr über das alltägliche Leben der Roboter, die Gefahr durch die „Zurks“ sowie mehr über die verschwundenen Menschen und lernt dabei unterschiedliche Areale der Stadt kennen. Um letztlich die Stadt hinter sich lassen zu können und es zurück an die Oberfläche zu schaffen, erhält man von einer Gruppe von Robotern, die „Outsiders“ genannt werden, die Aufgabe, die große Kuppel, welche die Stadt abschottet, zu öffnen und damit zeitgleich die Roboter auch wortwörtlich ins Licht zu führen.

Unterstützt wird man dabei unter anderem von einem kleinen fliegenden Roboter namens B-12, mit dessen Hilfe man sich mit den anderen Robotern verständigen kann und der selbst einige Geheimnisse mitbringt, welche es zu entdecken gilt.

Der Mensch in der Maschine?

Auf B-12 stößt man schon kurz nach dem Spielstart. Auf den ersten Schritten durch die Stadt fallen zunächst leuchtende Botschaften, die den Weg weisen, und wackelnde Kameras auf, welche die von den Spieler*innen gesteuerte Katze beobachten.

Indem man kurze Zeit später in einem Labor gemäß Anleitung einige Schalter betätigt, Sicherungen in die zugehörigen Fassungen setzt und damit einen Download vollendet, erwacht eine kleine Drohne zum Leben.

Ein seltsamer kastenförmiger weißer Automat, von dem eine Vielzahl an Kabeln abgeht, steht dabei in einem Hinterzimmer, daneben sitzt ein kaputter zweibeiniger Roboter, der dem typischen Aussehen der anderen Roboter in der Stadt entspricht.

Gehirnuploads zur Rettung der Menschheit?

Kurz nach der Aktivierung sind die Erinnerungen von B-12 noch verschwommen. Über die gesamte Stadt verteilt findet man Fragmente dieser Erinnerungen an ein scheinbares, früheres Leben, die letztlich ein zusammenhängendes Gesamtbild abgeben.

Nach und nach fallen B-12 immer mehr Details und Informationen über sich, den Wissenschaftler, dem er früher assistierte, und seine eigene Familie ein und wer es sich nicht schon im Labor oder bei einer der Geschichten von B-12 über sich und seine Familie denken konnte, bekommt, kurz nachdem man den Abwasserkanälen entfliehen konnte und das „Antvillage“ betritt, die Auflösung präsentiert. Die Katze und B-12 finden dort einen weiteren weißen Automaten, wie er auch schon im Labor stand.

B-12 erinnert sich daran, dass er einst selbst der Wissenschaftler war, der sich beziehungsweise sein Bewusstsein als letzte Rettung in einen Roboter hochladen wollte. Bei diesem Upload scheint jedoch etwas schief gegangen zu sein, sodass er feststeckte bis der Upload von einer kleinen orangenen Katze abgeschlossen wurde.

Andeutungen dieser Wendung finden sich nahezu über den gesamten Spielverlauf verteilt und sie werfen auch nach dieser Offenbarung weiterhin die Frage auf, ob es sich bei den anderen Robotern, die die Stadt bewohnen, nicht vielleicht auch um ehemalige Menschen handeln könnte, die ihre Gehirne – möglicherweise zum Schutz vor der Seuche – in metallische Körper hochgeladen haben.

Denn wie schon gesagt, von den Menschen, die, zumindest laut den Geschichten der Roboter, das Stadtbild prägten und denen die Roboter als besagte „Companions“ dienen sollten, fehlt jede Spur. Die Roboter selbst schwelgen in Erinnerungen an ihre „Vorfahren“, wie sie die Menschen oft bezeichnen, vermissen deren Anwesenheit und imitieren oftmals typisch menschliche Verhalten.

Ausgestattet mit dem Wissen um die „Zurks“ sowie die Entdeckung, dass B-12 einmal selbst ein Mensch war und zunächst seine eigene Vergangenheit vergessen hat, liegt der Schluss nahe, dass sich die anderen Menschen möglicherweise ebenfalls hochgeladen haben, um sich vor der Seuche zu schützen und so zu überleben.

Gehirnuploads in der Fiktion

Stray greift hier auf ein aus der Science-Fiction bekanntes Konzept des Gehirnuploads zurück. Ähnliche Vorgänge, wenngleich die Voraussetzungen oder die entsprechenden Prozesse mitunter unterschiedlich sind, finden sich beispielsweise in William Gibsons Buch Neuromancer (1984), dem Film Tron (Steven Lisberger, USA, 1982), vereinzelten Folgen der Serie Doctor Who (beispielswiese die Folgen „Silence in the Library“ und „Forest oft he Dead“), in verschiedenen Videospielen wie der Portal-Reihe (Valve, USA, 2007-2011), Mass Effect 3 (Bioware, USA, 2012) und Cyberpunk 2077 (CD Project Red, Polen, 2020) und in Abstrichen in dem Film Matrix (Wachowski-Geschwister, USA, 1999).
Wobei hier der Fokus primär auf einer virtuellen Welt liegt, die parallel existiert und nur eine Simulation ist, sodass genau genommen kein klassischer Gehirnupload stattfindet.

Denn ein Gehirnupload beschreibt üblicherweise einen Prozess, bei dem der eigene physische, weltliche Körper zurückgelassen wird und, wie es der Name sagt, das Gehirn einer Person oder eines Wesens digitalisiert und auf einen Computer hochgeladen wird und fortan in einer virtuellen Welt auf einem Computer oder einem Computerchip existiert oder in einem Roboter, der mit dem Netz verbunden sein kann. In manchen Fällen, wie beispielsweise in Tron, verschwindet dabei auch der Körper der Person, die hochgeladen wird.

Die Gründe für die Anwendung eines Gehirnuploads sind dabei vielfältig. Entweder soll damit eine neue Existenz in einer virtuellen Welt begründet werden, vor allem in Szenarien, in denen die Welt durch Kriege oder Klimakatastrophen unbewohnbar geworden ist, oder der Upload dient als lebensrettende Maßnahme, beispielsweise, wenn eine Person schwer verletzt ist und die „Seele“ bzw. der Charakter damit gerettet werden soll.

Gehirnuploads aus philosophischer Sicht

Gerade diesbezüglich stellt sich aus philosophischer Sicht die Frage, was genau die Person eigentlich ausmacht. Hier ergeben sich Fragen der Persönlichkeit und Identität einer Person an.

Welche Eigenschaften muss ein Mensch haben, um eine Person zu sein? Wodurch wird eine Person als Individuum gesehen? Kann man nach einer charakterlichen Veränderung immer noch von derselben Person sprechen?

Genauso ergibt sich aber auch die Frage, inwiefern Geist und Körper getrennte Entitäten (Dualismus) oder nur zwei Aspekte eines Gemeinsamen (Monismus) sind. Das sogenannte Leib-Seele-Problem oder auch Körper-Geist-Problem ist in der Philosophie des Geistes zentrales Untersuchungsobjekt und geht einer Vielzahl der Fragen des Zusammenspiels zwischen „Körper“ und „Geist“ nach.

Im Kern steht die Frage, wie sich mentale Zustände und physische Zustände zueinander verhalten und sich auswirken. Anschließende Untersuchungen betrachten oben genannte Aspekte, gehen aber auch auf weiter aufgeworfene Probleme wie die Willensfreiheitsdebatte ein oder fragen, ob Computer ebenfalls einen Geist besitzen können.

Im Zuge verschiedener Theorien und Debatten bezüglich der technologischen Singularität, vor allem in Verbindung mit aufkommender und zunehmend „intelligenter“ werdender künstlicher Intelligenz, wird der Gehirnupload als eine mögliche Methode betrachtet, wie es zu der Erschaffung einer Superintelligenz kommen kann.

Kurz zusammengefasst geht eine grundlegende Singularitätsthese (in verschiedenen Variationen) davon aus, dass aufgrund einer Intelligenzexplosion, meist in Verbindung mit einer Geschwindigkeitsexplosion bezogen auf Rechenprozesse von Computern, immer schnellere und immer intelligentere Maschinen geschaffen werden können, die schon bald deutlich intelligenter sind als es der intelligenteste Mensch aller Zeiten jemals sein könnte.[1]

Gehirnuploads werden hierbei als eine Methode angesehen, die dafür sorgen kann, dass die ursprüngliche Hürde der Erschaffung einer echten künstlichen Intelligenz, die eine menschengleiche Intelligenz besitzt, erschaffen werden kann.[2]

Dies ist besonders im Hinblick auf aktuelle wirtschaftliche und wissenschaftliche Entwicklungen und Errungenschaften von Bedeutung. Die Welt von Stray scheint der realen Welt außerhalb des Videospiels nämlich technisch nicht sonderlich weit voraus zu sein, obwohl in der realen Welt zumindest aktuell noch keine Gehirnuploads vorgenommen werden können.

Tatsächlich ist es überaus umstritten, ob Gehirnuploads jemals wirklich möglich sein können, da hierfür nicht nur unfassbar leistungsstarke Computer benötigt werden würden.

Auch ist trotz modernster Technik noch weitestgehend unklar, wie das Gehirn und seine einzelnen Teile funktionieren und miteinander interagieren und ob wir überhaupt in der Lage sein werden, Gehirne hochladen zu können.

Landgrebe und Smith argumentieren beispielsweise dafür, dass das Gehirn ein komplexes dynamisches System ist das aus mehreren komplexen dynamischen Systemen besteht und selbst Teil eines komplexen dynamischen Systems ist und wir diese Systeme nicht mathematisch modellieren können, was eine Emulation des Gehirns, die einem Upload vorausgehen müsste, unmöglich macht.[3]

Im Laufe von Stray stellt sich heraus, dass mit Ausnahme von B-12 keine weiteren Gehirnuploads durchgeführt wurden und es sich bei den anderen Robotern um klassische Maschinen handelt, die mit künstlichen Intelligenzen ausgestattet sind.[4]

Die Menschen sind nicht durch die Zurks, sondern schon vor dem Beziehen der unterirdischen Stadt durch eine nicht näher benannte Seuche ausgelöscht worden und es blieben nur die Roboter-Companions zurück.

Im Folgenden werden wir daher auf die Companions und ihre realen Entsprechungen eingehen. Selbstverständlich gibt es aber in der realen Welt noch keine so fortschrittlichen Roboter, wie es die Companions in Stray sind und sie sind auch nicht so stark in das alltägliche Leben integriert. Es zeigt sich aber, welche realen und aktuellen Prozesse und Überlegungen sich in Stray wieder finden.

Die Roboter-Companions in Stray und ihre realen Entsprechungen

Roboter in der realen Welt finden aktuell vor allem noch stark in industriellen Sektoren Anwendung. Zwar gibt es inzwischen auch in einigen Dienstleistungssektoren und in medizinischen und pflegerischen Bereichen vereinzelt Roboter, die beispielsweise im eigenen Haus staubsaugen oder den Rasen mähen, bei der Pflege und Betreuung von kranken und alten Menschen assistieren, als Orientierungshilfen dienen oder Gepäck tragen und gerade im Feld der Social Robotics wird verstärkt darauf hingearbeitet, möglichst autonome Roboter in das alltägliche Leben zu integrieren.

Dennoch unterscheiden sich all diese Beispiele bisher stark von den Robotern in Stray. Dies betrifft vor allem die Eigenschaften und Fähigkeiten der Companions, da diese deutlich fortgeschrittener sind und weniger stark das Aussehen und Design, wobei auch hier einige klare Unterschiede ausgemacht werden können.

Der größte äußerliche Unterschied besteht darin, dass die meisten Companions, die in Stray angetroffen werden können, einen typisch menschlichen Aufbau haben und sie sich auch bezogen auf ihre Bewegung wie Menschen verhalten.

Mit „typisch menschlich“ ist hier gemeint, dass sie einen zentralen Körper haben, von dem ein Kopf, zwei Arme und zwei Beine ausgehen und sie in der Lage sind, sich wie Menschen auf den zwei Beinen aufrecht gehend fortzubewegen.

Bei Robotern, die zum Beispiel für die Gartenpflege oder auch in der Industrie eingesetzt werden, findet sich dieses Aussehen in der Regel nicht.

Zwar trifft das humanoide Design der Companions aus Stray auch grundlegend auf soziale Roboter[5] in der realen Welt zu und zumindest hier ist der äußerliche Unterschied nicht so stark, menschengleiche Fortbewegung auf zwei Beinen hingegen ist eine Fähigkeit, über welche diese realen Roboter aber kaum bis gar nicht verfügen, da der aktuelle Stand der Technik (noch) keine stabile Form der Fortbewegung auf zwei Beinen ermöglicht. Soziale Roboter werden, vor allem für den Massenmarkt, aktuell verstärkt so gestaltet, dass sie sich entweder nicht fortbewegen können oder aber auf mehreren Rollen unterwegs sind und sie keine beweglichen Beine besitzen. Das weitere Aussehen hingegen nimmt dennoch humanoide Züge an, wobei zu beachten ist, dass es hier verschiedene Abstraktionsgrade gibt und nur selten – zumeist in der Wissenschaft, aber auch in einzelnen Bereichen der Wirtschaft – versucht wird, Roboter zu bauen, die Menschen täuschend ähneln.[6]

Das Uncanny Valley

Dies ist größtenteils auf Erkenntnisse hinsichtlich eines Phänomens zurückzuführen, welches zunächst von Masahiro Mori beschrieben wurde und als Uncanny Valley bezeichnet wird. Es beschreibt ein unheimliches oder unwirkliches Gefühl, welches bei der Betrachtung von bestimmten leblosen Objekten, die wie echte Menschen aussehen, oder toten Menschen ausgelöst wird. Grafisch wird dieses Phänomen durch einen Kurvenverlauf dargestellt, bei dem ab einem höheren Grad der optischen Übereinstimmung von beweglichen oder unbeweglichen Objekten mit einem Menschen ein drastischer Abfall der Vertrautheit bzw. der Zuneigung zu den jeweiligen Objekten festgestellt werden kann.[7]

Abbildung 1: Darstellung des Uncanny Valley samt Platzierung verschiedener unbelebter Entitäten auf den Graphen. Die Masken beziehen sich auf japanisches Schauspiel und werden dort von Schauspieler*innen getragen (Mori, 2012, 99)

Wie Mori festhält, wird dieses unheimliche Gefühl und damit der Abfall des Uncanny Valley durch Bewegung, allem voran autonome Bewegung, noch verstärkt, sodass man als Beobachter*in nur noch mehr den Eindruck bekommt, dass „hier etwas nicht stimmt“.

Mori platziert je nach ausgelöster Stärke des unheimlichen Gefühls verschiedene Objekte oder Entitäten auf dem Graphen. Gemäß dem Verlauf und den Beschreibungen ist zudem festzustellen, dass die Zuneigung zu den Objekten oder Entitäten, nachdem sie einen gewissen Wert überschritten hat, auch wieder zunimmt und schließlich das vermeintliche Maximum – zumindest bezogen auf bewegliche Dinge – in der Entität eines lebendigen, gesunden Menschen erreicht.[8]

Zu beachten ist, dass zum Zeitpunkt der Beschreibung des Phänomens durch Mori keine gesicherten empirischen Studien zu diesem Thema vorlagen. Neuere Studien legen jedoch den Schluss nahe, dass sich das Uncanny Valley auf die Wahrnehmung von Robotern durch Menschen, vor allem in sozialen Kontexten, auswirkt und nicht nur die bewusste Beurteilung betrifft, sondern auch das soziale Verhalten zu Robotern.[9]

Das Uncanny Valley wird oft mit einem anderen Phänomen in Verbindung gebracht, der Anthropomorphisierung von Objekten oder (Lebe-)Wesen.

Der Anthropomorphismus

Hierbei handelt es sich um eine menschliche Neigung oder Verhaltensweise, bei der einem Objekt, aber auch anderen Lebewesen und sogar Naturereignissen typisch menschliche Eigenschaften und/oder Fähigkeiten zugeschrieben werden. Die Spanne der zugeschriebenen Eigenschaften oder Fähigkeiten geht dabei von menschlichem Verhalten, wie einfachen Bewegungen, über Emotionen bis hin zu mentalen Zuständen.[10] Dabei ist es auch nicht von Bedeutung wie sehr die Entitäten einem Menschen ähneln und es spielt auch keine Rolle, ob wir wissen, dass es sich um ein Objekt wie beispielsweise einen Roboter handelt, wie auch Gabriella Airenti festhält:

In der alltäglichen Anwendung kennen wir das Phänomen des Anthropomorphismus, wenn wir vom „launischem Wetter“ oder der „lachenden Sonne“ reden, wenn wir dem Drucker vorwerfen, dass er absichtlich nicht druckt, um uns zu ärgern oder wenn wir Tieren zusprechen, dass sie uns verstehen oder vermeintliche andere kognitive Fähigkeiten aufweisen.

Anthropomorphismus sehen wir aber auch stark vertreten bei Kindern, die beispielsweise ihre Spielfiguren oder Plüschtiere wie echte Lebewesen behandeln, weshalb die Neigung zu anthropomorphisieren lange als kindliche Spielerei betrachtet wurde beziehungsweise in der Form des Animismus als ein bedeutender Schritt in der kindlichen Entwicklung angesehen war, die dann im Erwachsenenalter durch kausales Denken abgelöst wurde.[12]

Entsprechend wurde das Auftreten von Anthropomorphismus bei Erwachsenen als eine kognitive Verzerrung, als ein Kategorienfehler, als ein Hindernis zum Fortschritt des Wissens oder als eine psychische Disposition, die typisch für Unreife und Unaufgeklärte ist, angesehen.[13]

Von dieser Sichtweise wurde in der letzten Zeit aber mehr und mehr abgerückt und neuere Erkenntnisse legen nahe, dass Anthropomorphismus eine vollkommen natürliche und allen Menschen inhärente Fähigkeit oder Neigung ist, mit deren Hilfe wir Verbindungen eingehen und uns zudem, vor allem evolutionshistorisch und -psychologisch betrachtet, die Welt erklären.

Gemeint ist damit, dass wir zum einen durch das Zuschreiben mentaler Zustände zu anderen Lebewesen in der Lage sind deren Handlungen unter der Annahme, dass sie selbstbestimmte Akteur*innen sind, zu erklären oder vorherzusagen und dass wir zum anderen dadurch versuchen Ungewissheit zu verringern und generell einen Sinn in Ereignissen oder Handlungen suchen.[14]

Weiterhin wird vermutet, dass wir anthropomorphisieren, weil wir dazu veranlagt sind soziales Verhalten zu suchen, selbst dann, wenn wir wissen, dass es nicht möglich ist, dass es existiert. Dies ist eine Art induktiven Schließens, wobei wir schließen, dass gleiche Objekte gleiche Eigenschaften haben und entsprechend sehen wir beispielsweise bei Tieren Eigenschaften, die unseren eigenen ähnlich sind und schließen beispielsweise daraus, dass sie ebenfalls Emotionen empfinden.[15]

Anthropomorphismus stellt weiterhin eine Möglichkeit dar, wie wir mit nichtmenschlichen Entitäten eine Verbindung aufbauen bzw. eine Beziehung eingehen können. Dies gelingt, indem wir diese Entitäten so ansprechen und behandeln als wären sie menschliche Partner*innen in einem kommunikativen Kontext, was automatisch dazu führt, dass wir den Entitäten Intentionalität und soziales Verhalten zuschreiben.[16]

Robotic Anthropomorphism in Social Robotics und in Stray

Durch die Eigenschaften und Fähigkeiten, die Roboter mitbringen bzw. die ihnen bei der Herstellung gegeben werden, ist nicht verwunderlich, dass diese eine Sonderrolle bei der Anthropomorphisierung von Objekten einnehmen bzw. wir sie besonders stark anthropomorphisieren und ihnen sogar Leben zuschreiben.

Der Grund dafür ist vermeintlich, dass wir Roboter aufgrund ihres Verhaltens, ihrer (autonomen) Bewegungen und auch ihres Aussehens nicht als Objekte, die sie bisher sind, sondern als Subjekte bzw. als handelnde Wesen oder sogar Personen wahrnehmen.[17]

Auslösende Faktoren

So halten Damiano und Dumouchel passend fest, dass die anthropomorphische Neigung vor allem durch die Schlüsselfaktoren menschengleiches Aussehen und autonome Bewegung oder autonomes Verhalten ausgelöst wird und dass angenommen wird, dass ein starker Realismus schon in einem der beiden Bereiche es einem Roboter erlaubt, die soziale Schwelle zu erreichen und dadurch als soziales Subjekt wahrgenommen zu werden.[18]

Kurz gesagt also: Je ähnlicher ein Objekt uns Menschen in Aussehen und/oder Verhalten ist oder erscheint, umso leichter fällt es uns dieses Objekt zu anthropomorphisieren.

Damiano und Dumouchel weisen aber ebenfalls auf die Problematik des Uncanny Valley hin, was bedeutet, dass die Auswirkungen des Uncanny Valley auf unseren Umgang mit Robotern für die Gestaltung und Entwicklung von Robotern, allem voran sozialen Robotern, die weitreichender als alle anderen Roboter in den menschlichen Alltag integriert werden sollen, berücksichtigt werden müssen, damit sie nicht die abstoßenden oder unheimlichen Gefühle auslösen und erfolgreich integriert werden können.

Um dies zu ermöglichen wird in den Social Robotics der Anthropomorphismus vermehrt als Chance bzw. als grundlegendes Werkzeug angesehen, um, unter der Beachtung des Uncanny Valleys, eine erfolgreiche Mensch-Roboter-Beziehung zu ermöglichen.

Ein Schwerpunkt liegt dabei auf möglichst realistischem Verhalten und Bewegungen und weniger auf dem menschengleichen Aussehen.

Der Grund hierfür liegt darin, dass die Effekte des Uncanny Valley offenbar eher ausgelöst werden, wenn ein Roboter sehr menschenähnlich aussieht, aber das Verhalten und die Bewegungen nicht mit den mit dem Aussehen verbundenen Erwartungen übereinstimmen.[19]

Kate Darling schreibt hierzu:

Im Gegensatz dazu, stellen Damiano und Dumouchel fest, wird die Anthropomorphisierung stärker durch menschengleiches Verhalten und menschengleiche Bewegungen ausgelöst, auch dann, wenn der Roboter uns nicht allzu sehr ähnelt.[21]

Ein damit einhergehender weiterer Vorteil ist, dass so das Uncanny Valley besser umgangen werden kann, da wir eher positiv überrascht werden, wenn sich ein Objekt, das nicht menschlich aussieht, sich menschlich verhält.

Wie unweigerlich festgestellt werden kann, entsprechen die Roboter in Stray genau diesen Vorgaben oder Überlegungen, wie wir sie auch in den Social Robotics und auch bereits in Teilen in der realen Anwendung vorfinden.

Ihr Aussehen ist weit genug abstrahiert, damit sie nicht in das Uncanny Valley fallen, zugleich sind sie aber hinsichtlich ihres Verhaltens, ihrer Bewegungen und ihrem Äußeren eindeutig humanoid.

Ebenfalls kann festgestellt werden, dass die Roboter unterschiedlich fortschrittlich sind und manche Roboter deutlich komplexere Aufgaben lösen oder Handlungen ausführen können als andere.

Emotionale Intelligenz in Stray und reale Probleme

Besonders spannend ist, dass die Companions in Stray auch über emotionale Intelligenz zu verfügen scheinen und diese Emotionen über ihr Gesicht – ein Display im Kopfmodul – und ihre Gestik darstellen können. Es ist fraglich, ob sie wirklich so empfinden oder ob diese Emotionen nicht nur simuliert werden.

Anspielungen in Form von Handlungen, Gesprächen und Texten, die in der Welt von Stray gefunden werden können, deuten jedoch darauf hin, dass die Roboter sich weiterentwickelt und verbessert haben und zumindest zum Zeitpunkt der Handlung von Stray tatsächlich Emotionen empfinden.[22]

In der realen Welt sind Roboter ebenfalls in der Lage Emotionen oder emotionale Zustände über Displays oder durch verbale Signale mitzuteilen, wobei hier gesagt werden kann, dass die realen Roboter die Emotionen nicht wirklich verspüren, sondern diese durch entsprechende Programmierungen vorgegeben sind und es sich demnach lediglich um Simulationen handelt. Ob reale Roboter jemals in der Lage sein werden, echte Emotionen zu verspüren, ist fraglich.

Es ist aber nicht verwunderlich, wenn man bei der Betrachtung eines Roboters durchaus den Eindruck bekommt, dass es sich wirklich um emotionale Intelligenz beziehungsweise um ein empfindsames Wesen handeln könnte. Hierin zeigen sich dann auch vor allem zwei bedeutende Probleme in der Nutzung menschlicher anthropomorphischer Tendenzen. Einerseits öffnet dies natürlich Tür und Tor für Manipulationen, andererseits scheint es schwierig zu werden, die simulierten Emotionen von möglichen echten Emotionen oder Empfindungen zu unterscheiden und es entstehen möglicherweise falsche Erwartungshaltungen. Es könnte also gut sein, dass wir, wenn es tatsächlich mal soweit sein sollte, dass Roboter wirklich Emotionen empfinden können wir dies gar nicht feststellen können und dann möglicherweise die Roboter weiterhin so behandeln als seien die Emotionen nur simuliert, was dann zu moralisch verwerflichem Umgang führen könnte.

Nicht ganz unberechtigt argumentieren Befürworter*innen deshalb, dass wir, um sicherzugehen, dass wir nicht versehentlich die moralischen Ansprüche verletzen, schon jetzt bestimmte Roboter oder künstliche Intelligenzen lieber so behandeln sollten, als würden sie bereits wirklich Emotionen oder Empfindungen haben.

Andererseits erwarten wir möglicherweise zu viel von den Robotern und verlassen uns zu stark auf deren Fähigkeiten und werden enttäuscht oder gar gefährdet, weil wir ihnen Aufgaben überlassen, die sie überhaupt nicht hinreichend meistern können.

Das Problem der Manipulation ist selbst zweigliedrig. Einerseits ist es natürlich allein schon moralisch verwerflich, wenn Menschen bewusst manipuliert oder getäuscht werden.

Wenn mit den Emotionen oder den Erwartungen von Menschen gespielt wird und ihnen vorgetäuscht wird, dass der Roboter, mit denen sie interagieren vermeintliche Gefühle, Empfindungen oder andere typisch menschliche Eigenschaften aufweist.

Wenn ein Roboter beispielsweise vorgibt, in eine Person verliebt zu sein oder mit ihr befreundet zu sein und diese Konzepte überhaupt nicht verstehen und auch nicht einhalten kann, dann ist dies ein Problem.[23]

Andererseits wird dies dann besonders gefährlich, wenn aus dieser Manipulation oder Täuschung negative Folgen für die Menschen entstehen.

Darling spricht zum Beispiel davon, dass man sich nur mal vorstellen müsste, dass ein Roboter, der Kinder beim Sprachlernen unterstützen soll, für Werbezwecke und Firmeninteressen verwendet wird und beispielsweise Werbeslogans oder bestimmte Begriffe mit in das Sprachlernen einfließen lässt und so bereits früh in der Entwicklung Kinder beeinflusst.[24]

Fazit

Die Zuschreibung von Emotionen und die Verwendung des Anthropomorphismus, zumindest was reale Roboter angeht, ist also – so viel kann abschließend festgehalten werden – durchaus vorsichtig zu betrachten und kann große Probleme oder Gefahren mit sich bringen.

In der realen Welt sind wir, bei allen technischen Fortschritten, noch sehr weit davon entfernt, dass Roboter wirklich empfindsame Wesen sind und Emotionen verspüren.

Ebenso sind wir noch weit davon entfernt, Gehirne hochzuladen oder von künstlichen Intelligenzen zu sprechen, auch wenn wir aufgrund unserer anthropomorphischen Neigung schnell den Eindruck gewinnen können, dass die Roboter diese Fähigkeiten und Eigenschaften haben und sich auf Augenhöhe mit uns befinden.

Dies wird durch Science-Fiction-Elemente, wie es die Companions in Stray sind, natürlich noch befeuert, vor allem dann, wenn die Geschichte in einer Zukunft spielt, die nicht so fernab von unserer eigenen Gegenwart zu spielen scheint und wenn die Roboter im Vergleich zu anderen Science-Fiction-Geschichten verhältnismäßig eng an dem aktuellen Stand der Technik zu sein scheinen.

Spieler*innen erhalten zweifelsfrei den Eindruck, dass die Companions in Stray emotionale künstliche Intelligenzen sind und aufgrund der realen technischen Entwicklungen, allem voran in den Social Robotics, entsteht dann schnell der Eindruck, dass sich die Roboter im Spiel kaum bis gar nicht von den Robotern unterscheiden, die wir bereits entwickeln und herstellen können.

Auf der anderen Seite bietet sich Stray gerade aufgrund dieser vermeintlich nahen Zukunft und der verhältnismäßig ähnlichen technischen Entwicklung hervorragend dazu an, um die möglichen Folgen der Verwendung solcher Technik zu begutachten und Rückschlüsse zu ziehen.

Zudem lassen sich somit auch Fragen hinsichtlich unserer eigenen Rolle und auch den vermeintlich besonderen typisch menschlichen Fähigkeiten und Eigenschaften aufwerfen.

Zuletzt darf nicht außer Acht gelassen werden, dass Stray als Videospiel unterhalten und Spaß machen möchte und was kann – zumindest aus technikphilosophischer beziehungsweise roboterethischer Sicht – denn groß unterhaltsamer sein als eine Geschichte, die sich mit genau den Fragen auseinandersetzt, mit denen sich die Wissenschaft tagtäglich beschäftigt und die zum Nachdenken anregt?


Falls du dich für ähnliche Themen interessierst, findest du hier weitere Blog-Beiträge:

Kriegsroboter & Künstliche Intelligenz in Horizon Zero Dawn

Horizon Zero Dawn: Über emotionale Maschinen mit Schmerzempfinden


Quellen und Fußnoten

[1] Vgl. Chalmers, D. J. (2016). The Singularity: A Philosophical Analysis. In U. Awret (Hrsg.), The Singularity: Could artificial intelligence really out-think us (and would we want it to)? Imprint Academic.

[2] Vgl. Chalmers, (2016).

[3] Vgl. Landgrebe, J. & Smith, B. (2023). Why Machines Will Never Rule the World: Artificial Intelligence Without Fear. Routledge.

[4] Vgl. https://www.thegamer.com/stray-humanity-companions-zurk-lore-story-explained/#how-are-the-companions-connected, letzter Aufruf: 22.11.2023.

[5] Soziale Roboter sind Roboter, die vermehrt in sozialen Kontexten oder Beziehungen eingesetzt werden (sollen) und sich bspw. von Industrierobotern abgrenzen. Soziale Roboter sind dabei auf Interaktionen mit Menschen ausgerichtet und sollen Dienstleistungsaufgaben erfüllen, aber durchaus auch als Interaktionspartner*innen auftreten. Soziale Roboter können bspw. in Supermärkten als Einkaufshilfen, in Restaurants oder Hotels als Bedienung, aber auch in Pflegebereichen oder im alltäglichen Leben als Gesprächspartner*innen und Begleiter*innen auftreten. Dies deckt sich mit den Rollen und Funktionen der Companions in Stray.

[6] Im Bereich der Wissenschaft lässt sich federführend der japanische Robotiker Hiroshi Ishiguro anführen, der beispielsweise einen Androiden gebaut hat, der äußerlich ihm selbst angelehnt ist. Für weitere Informationen zu diesem oder anderen, von Ishiguro gebauten Androiden, siehe https://eng.irl.sys.es.osaka-u.ac.jp/, letzter Aufruf: 23.10.2023.

[7] Vgl. Mori, M. (2012). The Uncanny Valley [From the Field] (K. F. MacDorman & N. Kageki, Übers.). IEEE Robotics Automation Magazine, 19(2), 98-100.

[8] Vgl. Mori, 2012, 98-100 u. vgl. Misselhorn, C. (2009). Empathy with Inanimate Objects and the Uncanny Valley. Minds and Machines, 19(3), 346.

[9] Vgl. Mathur, M. B., & Reichling, D. B. (2016). Navigating a social world with robot partners: A quantitative cartography of the Uncanny Valley. Cognition, 146.

[10] Vgl. Damiano, L., & Dumouchel, P. (2018). Anthropomorphism in Human–Robot Co-evolution. Frontiers in Psychology, 9(468), 2 u. vgl. Złotowski, J., Proudfoot, D., Yogeeswaran, K., & Bartneck, C. (2015). Anthropomorphism: Opportunities and Challenges in Human–Robot Interaction. International Journal of Social Robotics, 7(3), 347.

[11] Airenti, G. (2018). The Development of Anthropomorphism in Interaction: Intersubjectivity, Imagination, and Theory of Mind. Frontiers in Psychology, 9(2136), 8.

[12] Vgl. Airenti, 2018, 2-4.

[13] Vgl. Damiano & Dumouchel, 2018, 2.

[14] Vgl. Darling, K. (2021). The New Breed: How To Think About Robots. Allen Lane, 94.

[15] Vgl. Devlin, K. (2020). Turned On: Science, Sex And Robots. Bloomsbury, 124.

[16] Vgl. Airenti, 2018, 11.

[17] Vgl. Darling, 2021,100.

[18] Vgl. Damiano & Dumouchel, 2018, 2.

[19] Vgl. Damiano & Dumouchel, 2018, 3.

[20] Darling, 2021, 110.

[21] Vgl. Damiano & Dumouchel, 2018, 3.

[22] Vgl. https://www.thegamer.com/stray-humanity-companions-zurk-lore-story-explained/#how-are-the-companions-connected, letzter Aufruf: 22.11.2023.

[23] Vgl. Sullins, J. P. (2012). Robots, Love, and Sex: The Ethics of Building a Love Machine. IEEE Transactions on Affective Computing, 3(4), 407-408.

[24] Vgl. Darling, (2021), 161.

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